MaNN AUS OBST

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2014/15

Des Kaisers neue Kleider

Andersens Satire als Freejazzmärchen

Warum würde ich nicht sagen, was ich sehe? Woher kommt die Scham, die mich davon abhält, zu meiner eigenen Wahrnehmung zu stehen? Wo bin ich kompromittierbar? Wie kommt es, dass das ganze Volk einem nackten Kaiser zujubelt , dass ehrwürdige alte Minister beteuern, sie sähen die tollsten Farben und Muster, und keiner sich traut, zuzugeben, dass er nichts sieht?

Wir nehmen Andersens Märchen zum Anlass, gemeinsam teilweise schmerzhaftes, beschämendes, oft aber auch amüsantes autobiographisches Material zu erforschen.

Dieses Material wird zunächst gemeinsam (meistens in der Küche) erhoben und dann (im Proberaum) wieder in das Märchen eingewebt. Als wir selbst probieren wir uns in der Rolle der Betrüger, des betrogenen Volkes, des blamierten Kaisers – und schließlich in der des Kindes, welches den Betrug aufdeckt.

Obwohl wir beim Proben gar nicht notwendigerweise einen lustigen Abend zum Ziel hatten, sind wir im Ergebnis ähnlich wie Andersens Original bei eine Gratwanderung zwischen bitterem Ernst und Komik gelandet – die am Ende möglicherweise noch eine politische Dimension entfaltet ?

Heidi Klum & Co das Wasser abgraben

Untersuchung von Scham, Gefallenwollen, Schönheitswahn, Konformismus, Reduktion gesellschaftlicher Werte auf Markttauglichkeit

Am 11. Mai 2014, vor wenigen Tagen, wurde das Finale der 9. Staffel von Heidi Klums Casting Show Germanys Next Topmodel deutschlandweit ausgestrahlt und von Millionen Menschen aller Altersstufen gesehen. Die Macher_innen dieser Art Shows nehmen für sich in Anspruch, im Dienste von Werten wie „Entwicklung“, „Persönlichkeit“, „Natürlichkeit“, „Echtheit“, „Kreativität“ unterwegs zu sein.

Während es in Wirklichkeit um Anpassung an einen ganz bestimmten Markt, um Quoten und letzten Endes schlicht um Geld geht. Angesichts von Heidi Klum & Co dreht sich uns als Künstler_innen und als Pädagog_innen gleichermaßen der Magen im Bauch herum.

Wir wünschen uns

– dass Entwicklung nicht Anpassung bedeuten möge, sondern das Entwickeln, Befreien, Erfinden möglichst vieler verschiedener in verschiedenen Menschen angelegter Möglichkeiten.

– dass Persönlichkeit nicht die Fähigkeit bezeichnet, aktuelle Machthaber_innen zu manipulieren (oder selbst welche zu werden … ), sondern frei, wachsam und beweglich in Wahrnehmung und Urteil in der Welt zu stehen.

– dass mit Natürlichkeit nicht Zahnpastalächeln und Perfektionsbody gemeint sind, sondern eine gute Übereinstimmung eines Menschen mit sich selbst, im Lächeln, im Weinen, im verschlossenen oder offenen Ausdruck, im dicken oder dünnen oder somittleren Körper.

– dass Kreativität nicht für das Ausmaß der Cleverness steht, mit der man die Marktlage für seine finanziellen Ziele zu nutzen versteht, sondern für die Fähigkeit, Dinge immer wieder wie zum ersten Mal anzusehen und immer wieder neue Lösungen mit neuen Menschen zu probieren.

Kurzgefasst beklagen wir mit Andersen den Verlust von persönlicher Integrität

  • des Kaisers, der sich aus seiner kaiserlichen Verantwortung stiehlt und ins Außen flieht
  • seiner Minister, die aus Angst vor dem Verlust ihres hohen gesellschaftlichen Status lügen
  • im Volk, in dem jede_r das Urteilen sogenannten Experten überlässt, unkritisch mit ihnen mitlügt, sich fragwürdigsten Normen unterwirft und verunsichert seine eigenen Komplexe pflegt

»Aber er hat ja gar nichts an« – Überlegungen zum Ende des Märchens

Bei der Auseinandersetzung mit der Rolle des Kindes, das schließlich den Schwindel auffliegen lässt, schien uns der Rückgriff auf das mittelalterliche Märchen, das Andersen als Grundlage benutzt, hilfreich. Das Motiv der Sichtbarkeit des Zaubergewebes wurde damals etwas anders gegriffen: Nur derjenige ist den Stoff zu sehen in der Lage, der tatsächlich seines Vaters Sohn ist. Hintergrund damals waren Erbstreitigkeiten in den spanischen Fürstentümern. Das Szenario am Ende der Geschichte ist ähnlich wie bei Andersen: Niemand gesteht, dass der Fürst nackt ist, denn dann wäre er ja enterbt. Es ist schließlich ein schwarzer Sklave, dessen Herkunft ohnehin unklar ist, der den Schwindel aufdecken kann.

Da wir als Erwachsene so ohne Weiteres nicht mehr in die kindliche Unschuld zurückfinden werden (von der ja auch noch gefragt werden müsste, ob sie nicht ohnehin eine dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts geschuldete romantisch verklärte Figur ist) können wir uns ein Happy-End, wenn überhaupt, nur in der Richtung dieses schwarzen Rossknechtes vorstellen.

Ihn zeichnet aus, dass er nichts zu verlieren hat – und das macht ihn frei.

Das können wir nur erreichen, indem wir uns, so gut es geht, von allem zu lösen versuchen, was uns erpressbar macht. Indem wir versuchen, uns so gut es geht uns von Statusfragen frei zu machen, unsere Prägungen zu hinterfragen, uns vom Applaus der Welt so weit wie möglich unabhängig machen, oder dieser Abhängigkeiten zumindest bewusst zu werden …

Email von Volker

Liebe Maja,

da entdeckte ich doch heute in der Zeitung einschlägige Forschungsergebnisse zu »Scham und Kleidung«:

Peinlich: Das Gefühl von Peinlichkeit bewegt Menschen dazu, Produkte zu wählen, hinter denen sie sich verstecken können. Das ist das Ergebnis einer Studie der Sun Yet-Sen Universität, der Toronto University und der Chinese University of Hongkong. In dem Versuch kauften Probanden, die eine peinliche Situation ihres Lebens nacherlebten, größere Sonnenbrillen als die Vergleichsgruppe. In einem anderen Experiment erwarben sie eher Sonnenbrillen oder dekorative Kosmetik als andere Warengruppen.

Aus dem Artikel »Dem rätselhaften Kunden auf der Spur«, Berliner Zeitung, 21./22.12.2013